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Inannas Gang in die Unterwelt

Übersetzung aus dem Sumerischen

Des Übersetzers Gang in die Unterwelt

Ganzer, der Name des Palastes der Unterwelt, durch dessen sieben Tore Inanna schreitet, bedeutet wörtlich: „Ich zerstöre dich!“ Nicht nur Inanna, auch das Werk “Inannas Gang in die Unterwelt“ ist durch die sieben Tore der Zerstörung gegangen: Überliefert ist es ausschließlich in Bruchstücken fehlerhafter Schülerabschriften. Diese sind aus einer Zeit, in der selbst die Lehrer nur noch gebrochen Sumerisch sprachen. Hinzu kommt, dass die erhaltenen Scherben nicht von einem Text, sondern aus einer Vielzahl unterschiedlicher Erzähltraditionen stammen. Das Sumerische war über Jahrtausende verloren und musste mit Hilfe des Akkadischen rekonstruiert werden. Das Akkadische ist ebenfalls eine verlorene Sprache und wurde über verwandte Idiome erschlossen.

Wie aber einen Text übersetzen, den es nicht mehr gibt? Es blieb mir nichts anderes übrig, als selbst in die Unterwelt zu steigen und die Tore des Palastes Ganzer zu öffnen. Die Erfahrung aus zahlreichen Höllenfahrten der Literaturgeschichte zeigt, dass es sinnvoll ist, dabei einen Begleiter zu suchen. Mein Vergil im dunklen Wald der Keilschriftzeichen war der Assyriologe Dr. Michael Fritz. Er führte mich über die Abgründe der sumerischen Grammatik und gab mir die Einbrecherwerkzeuge des Sprachwissenschaftlers in die Hand. Monatelang studierten wir Silbe für Silbe die vertrackten Schließmechanismen der sumerischen Sprache.

Allmählich erkannte ich in den Versen der Dichtung die Umrisse periodisch wiederkehrender Silbenkombinationen. Silhouetten von Variation und Permutation traten hervor und wiesen auf kunstvolle Alliterationen, Wortspiele und Reime hin. Auch wenn die genaue Aussprache und Betonung der einzelnen Silben unwiederbringlich verloren gegangen sind, konnte ich nun aus ihrer Anordnung gewissermaßen „optisch“ den Rhythmus des Textes nachvollziehen. Ich begann, die wiederkehrenden Elemente in Kolumnen zu bündeln, und erhielt zu meinem Erstaunen konkrete Poesie.

Doch beim Aufstieg aus der sumerischen Unterwelt in die deutsche Sprache stieß ich erneut auf verschlossene Tore. Das weit abstraktere Deutsch sperrt sich gegen die körperliche Metaphorik des Sumerischen. Meine einzige Möglichkeit war es also, auch in die wohlgesittete Ordnung der deutschen Sprache einzubrechen und, statt das sumerische Original in ein ordentliches Deutsch zu kleiden, der deutschen Sprache ein möglichst gutes Sumerisch zu entlocken.

Mögen mir die Wächter des korrekten Deutsch, die Hüter des reinen Sumerisch verzeihen. Als mildernden Umstand kann ich nur anführen, dass ich geblendet war von der vollendeten Schönheit dieser großartigen Dichtung.

 

Die Rekonstruktion des sumerischen Originals ist in den letzten beiden Jahrzehnten  weitergekommen. Auf der Grundlage des aktualisierten Originals arbeite ich seit 2022 an einer neuen Fassung der Nachdichtung.

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Inannas Gang in die Unterwelt

Übersetzung aus dem Sumerischen

Des Übersetzers Gang in die Unterwelt

Ganzer, der Palast der Unterwelt, durch dessen sieben Tore Inanna schreitet, bedeutet wörtlich: „Ich zerstöre dich!“ Nicht nur Inanna, auch das Werk Inannas Gang in die Unterwelt ist durch die sieben Tore der Zerstörung gegangen: Überliefert ist es ausschließlich in Bruchstücken fehlerhafter Schülerabschriften. Diese sind aus einer Zeit, in der selbst die Lehrer nur noch gebrochen Sumerisch sprachen. Hinzu kommt, dass die erhaltenen Scherben nicht von einem Text, sondern aus einer Vielzahl unterschiedlicher Erzähltraditionen stammen. Das Sumerische war über Jahrtausende verloren und musste mit Hilfe des Akkadischen rekonstruiert werden. Das Akkadische ist ebenfalls eine verlorene Sprache und wurde über verwandte Idiome erschlossen.

Wie aber einen Text übersetzen, den es nicht mehr gibt? Es blieb mir nichts anderes übrig, als selbst in die Unterwelt zu steigen und notfalls mit den Mitteln eines Einbrechers zu versuchen die Tore des Palastes Ganzer zu öffnen. Die Erfahrung aus zahlreichen Höllenfahrten der Literaturgeschichte zeigt, dass es sinnvoll ist, dabei einen Begleiter zu suchen. Mein Vergil im dunklen Wald der Keilschriftzeichen war der Assyriologe Dr. Michael Fritz. Er führte mich über die Abgründe der sumerischen Grammatik und gab mir die Einbrecherwerkzeuge des Sprachwissenschaftlers in die Hand: Monatelang studierten wir Silbe für Silbe die vertrackten Schließmechanismen der sumerischen Sprache. Wir zerlegten Wörter in Prä-, In- und Suffixe, bohrten an Silben mit lokativ-terminativer Bedeutung und feilten an Partikeln mit stativischer Funktion. Wir ertasteten Agentive, Ventive und Subjectmarker und legten transitive und intransitive Verb-Verzahnungen offen. So stieg ich Tor um Tor in Inannas Gang in die Unterwelt hinab.

Ich erkannte allmählich die Umrisse periodisch wiederkehrender Silbenkombinationen. Silhouetten von Variation und Permutation traten hervor und wiesen auf kunstvolle Alliterationen, Wortspiele und Reime hin. Auch wenn die genaue Aussprache und Betonung der einzelnen Silben unwiederbringlich verloren gegangen sind, konnte ich nun aus ihrer Anordnung gewissermaßen „optisch“ den Rhythmus des Textes nachvollziehen. Ich begann, die wiederkehrenden Elemente in Kolumnen zu bündeln, und erhielt zu meinem Erstaunen Konkrete Poesie.

Doch beim Aufstieg aus der sumerischen Unterwelt in die deutsche Sprache stieß ich erneut auf verschlossene Tore. Das weit abstraktere Deutsch sperrt sich gegen die körperliche Metaphorik des Sumerischen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als auch in die wohlgesittete Ordnung der deutschen Sprache einzubrechen und, statt das sumerische Original in ein ordentliches Deutsch zu kleiden, der deutschen Sprache ein möglichst gutes Sumerisch zu entlocken.

Mögen mir die Wächter des korrekten Deutsch, die Hüter des reinen Sumerisch verzeihen. Als mildernden Umstand kann ich nur anführen, dass ich geblendet war von der vollendeten Schönheit dieser großartigen Dichtung.

Károly Koller München, den 5. August 2002